Interview mit Kenza Ait Si Abbou: Emotionale KI kann den Menschen lesen – besser als er sich selbst
Verstehen uns Maschinen bald besser als andere Menschen? Gut möglich, glaubt Kenza Ait Si Abbou Lyadini. Die Ingenieurin gilt hierzulande als eine der bekanntesten Expert:innen für Künstliche Intelligenz (KI). In ihrem jüngsten Buch „Menschenversteher“ beleuchtet sie die Entwicklung emotionaler Künstlicher Intelligenz. Wir haben sie kurz vor ihrer Keynote auf dem HTGF Family Day im Mai zum Interview getroffen. Ein Gespräch über KI als ganz persönlicher Ansprechpartner, die bedeutende Rolle und Verantwortung von Start-ups und Tech-Konzernen in der KI-Entwicklung – sowie die Zukunft der Mensch-Maschine-Interaktion.
Kenza, was meinst du, wenn du von emotionaler Künstlicher Intelligenz sprichst?
Emotionale KI beschreibt die Fähigkeit einer Maschine, Emotionen bei Menschen zu erkennen und zu analysieren. Es geht also nicht darum, ob die Maschine selbst Emotionen hat – denn die hat sie nicht –, vielmehr darum, dass sie Emotionen bei Menschen lesen und zum Teil auch nachahmen kann.
Dein aktuelles Buch heißt Menschenversteher. Beginnen Maschinen uns zu verstehen?
Genau, das ist die steile These, die ich aufstelle. Denn mit den aktuellen Entwicklungen in der Künstlichen Intelligenz erleben wir zum ersten Mal eine „Spezies“ – wenn man dieses Wort hier überhaupt verwenden kann – die uns Menschen versteht und lesen kann. Und uns vielleicht sogar besser versteht als wir Menschen selbst?
Was meinst du damit?
Die Mensch-Maschine-Interaktion schreitet immer weiter voran. Wir Menschen beginnen ernsthafte Gespräche mit der KI, teilen mit ihr intime Geheimnisse oder Erlebnisse aus unserer Kindheit. Weil wir ihr vertrauen. Weil wir wissen, dass sie nichts ausplaudert. Für mich ist das eine extreme Entwicklung. Denn die Maschine schickt sich an, eine Lücke zu füllen. Wir Menschen nehmen uns weniger Zeit füreinander. Wir sind durchgetaktet. Vielleicht haben wir immer weniger Kraft und Lust, uns um die Probleme anderer zu kümmern. Hier setzt die KI an, es gibt immer mehr Anwendungen, die sich darauf spezialisieren, diese Lücke zu schließen und mit den Menschen tief emotionale Gespräche zu führen, sie aufzufangen. Und plötzlich beginnen Algorithmen uns zu lesen und spiegeln uns das Gefühl, dass sie uns verstehen. Auf einmal wirkt die Maschine empathisch. Dabei ist dies nur eine Simulation.
Ist das gut oder schlecht?
Ich glaube, das können wir noch nicht beantworten, dafür ist es zu früh. Sicher ist, dass sich etwas verändert. Das müssen wir genau beobachten und wissenschaftlich begleiten. Hier ist vor allem auch die Sozialforschung gefragt.
Dennoch haben viele Menschen Angst vor einer starken KI mit einem solchen Bewusstsein. Wird das passieren?
Mit dem Wissen von heute nicht. Aber wir können noch nicht abschätzen, wie sich die Technologie in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wird.
Kannst du die Sorge nachvollziehen?
Ja, es ist klar, dass die aktuellen Entwicklungen Angst auslösen können; schließlich steckt der Mensch dahinter. Und wir haben in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass Menschen nicht nur gutwillig agieren. Angst vor der Technologie selbst brauchen wir meines Erachtens aber nicht zu haben.
Wie weit sind die Maschinen schon, uns zu lesen und zu verstehen?
Hier stehen wir noch ganz am Anfang. Zwar gibt es erste kommerzielle Anwendungen, denken wir an Chatbots und Conversational AI. Oder in der Marktforschung werden bereits emotionale KI-Lösungen eingesetzt, etwa um die Wirkung von Werbung zu testen. Dabei werden Menschen nicht mehr befragt, sondern ein Computer kann aus ihren Körperfunktionen Emotionen ablesen.
Wie ist dein Blick auf generative KI wie ChatGPT und Co?
Das Besondere ist, dass die Anwendungen jetzt im Consumer-Bereich angekommen sind. Die Technologie gibt es ja schon seit Jahren, auch wenn der Reifegrad für eine großflächige Nutzung meines Erachtens noch nicht erreicht wurde. Andere Faktoren wie eine weitere Steigerung der Output-Qualität und vor allem die massenhafte Verfügbarkeit tragen zusätzlich zum Hype bei. Dieser Zugang verändert natürlich auch uns Menschen und unsere Arbeitsweise. Nehmen wir zum Beispiel die Kreativbranche: Hier verlangen die Kunden immer kürzere Lieferzeiten. Viele sind auf die Unterstützung durch generative KI angewiesen.
Was bedeuten diese Entwicklungen für die Start-up-Branche? Wo liegen die Chancen und wo die Herausforderungen?
Die Chancen liegen in der KI als Werkzeug. KI ermöglicht es, Prozesse zu beschleunigen, effizienter zu arbeiten. Aber auch in der Entwicklung von neuen Ideen. Das sehen wir deutlich bei den Start-ups, die auf Basis generativer KI neue Produkte und Geschäftsmodelle entwickeln. Risiken sehe ich in einem unüberlegten Umgang mit der Technologie. Im hohen digitalen Wettbewerb kommt die Technologie teilweise zu schnell zum Einsatz. Erst im Nachhinein zeigen sich Probleme, wie etwa mit dem algorithmischen Bias oder mit der mangelnden Privatsphäre. Ein zu starker Fokus auf Profit beschleunigt das Ganze. Start-ups müssen sich gerade zu Beginn voll auf ihr Business konzentrieren, aber sollten sich der Macht von KI als Werkzeug durchaus bewusst sein und verantwortungsvoll agieren.
Sind Start-ups die Treiber von KI-Entwicklungen?
Sie sind eine treibende Kraft. Aber man darf die Arbeit der Tech-Giganten nicht unterschätzen. Sie betreiben die Grundlagenforschung. Sie schaffen die technologische Basis. Start-ups sind dann sehr gut darin, auf diesem Fundament spezialisierte Produkte zu bauen. Sie kennen die einzelnen Umgebungen sehr gut und können auf spezielle Kundenbedürfnisse sehr schnell reagieren, sei es B2B oder B2C.
Wir treffen uns auf dem Family Day, rund 1000 Teilnehmende, also mehr Mensch-zu-Mensch als Mensch-zu-Maschine-Interaktion. Wie wichtig sind dir solche Events?
Sehr wichtig, gerade weil eine solche Veranstaltung vor Ort einen emotionalen Austausch ermöglicht. Emotionen steuern alles. Emotionen beeinflussen unsere Entscheidungen, auch im beruflichen Kontext. Wenn wir diese Emotionen klug nutzen, treffen wir bessere Entscheidungen.
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