Ist Produktmanagement das fehlende Puzzleteil für Europa?
In seiner täglichen Arbeit mit Gründerinnen und Gründern frühphasiger Industrial Tech Start-ups legt unser Principal Gregor Haidl besonderen Wert auf ein tiefes Verständnis der Kunden und die Definition eines erfolgreichen Produktes. Effizientes Produktmanagement ist nicht nur für Start-ups, sondern für Unternehmen jeder Größe und Branche ein wesentlicher Eckpfeiler. Für unser Interview traf sich Gregor Haidl mit Elias Lieberich, einem langjährigen Google Manager und Produktexperten.
Nach mehr als einem Jahrzehnt bei Google und YouTube, wo Elias mit Teams in den USA und Europa einige der größten Produkte entwickelt hat, hat er sich heute als Mitgründer von Product Matters zum Ziel gesetzt, Produktmanagement in Europa zu stärken. Im Interview teilt Elias seine einzigartigen Erfahrungen mit unserem HTGF-Netzwerk. Er betont die zentrale Rolle der Kundenorientierung, die Innovationskraft von Entwicklerteams und zeigt auf, wo Europa von den USA lernen kann.
Elias, du hast mehr als ein Jahrzehnt bei Google an einigen der größten Produkte gearbeitet. Welchen Rat hast du für Tech-Unternehmen in Europa?
In den USA gibt es einen viel stärkeren Fokus auf modernes Produktmanagement und Engineering wird oft als die wichtigste Funktion im Unternehmen gesehen. Erfolgreiche Unternehmen folgen einem einfachen Rezept: Identifiziere ein Kundenproblem, finde eine gute Lösung, begeistere sowohl das Team als auch die Stakeholder für diese Idee, teste und verfeinere die Idee in enger Zusammenarbeit mit dem Kunden und bringe schließlich etwas auf den Markt, das sowohl für den Kunden als auch für das Unternehmen einen Impact hat. Der Schwerpunkt liegt auf den Entwicklern, Designern und Produktmanagern, die diesen Wert schaffen. Leider geht diese wichtige Message in Europa zwischen all den Frameworks, Tools und Prozessen oft verloren.
Das ist leichter gesagt als getan. Ich bin sicher, dass auch amerikanische Unternehmen über einige zentrale Instrumente verfügen, um zu entscheiden, was entwickelt wird.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die besten Ideen und Produkte in kleinen Gruppen entstehen und dann Gestalt annehmen, wenn immer mehr Menschen davon überzeugt sind und sich beteiligen. Natürlich gibt es auch längerfristige Strategien, aber wie diese zum Leben erweckt werden, ist oft ein dezentraler, sozialer Prozess, in dem die besten Ansätze um Ressourcen konkurrieren. Es gibt keinen festen Weg von A nach B, egal wie viele Roadmaps man erstellt. Am Ende kann es sogar sein, dass man eine ganz andere Route einschlägt. Das kann ziemlich chaotisch und nervenaufreibend sein, aber meiner Erfahrung nach sind solche Umwege absolut notwendig, um wirklich erfolgreiche Produkte zu entwickeln.
Wie unterscheiden sich europäische Player in ihrem Ansatz?
In europäischen Tech-Unternehmen ist die Organisation der Engineering-Teams oft von einer hierarchischen und prozessorientierten Struktur geprägt. Sie haben Angst, den vorgegebenen Weg zu verlassen. Häufig hat das Management sehr viel mehr Kontrolle darüber, was gebaut wird. Darunter leidet die Fähigkeit der Entwickler und Produktmanager, die eigentlichen Bedürfnisse der Kunden zu identifizieren. Die Folge ist häufig eine übermäßige Bürokratie, die die Entwicklung verlangsamt, minderwertige Produkte hervorbringt und letztendlich das gesamte Engineering-Team frustriert.
Das führt Unternehmen in eine Abwärtsspirale. Das Management sieht kaum oder keine Fortschritte, da die Entwicklung schleppend verläuft und die Ergebnisse dünn ausfallen. Die Antwort wird oft in den Business- und Sales-Teams gesucht, da sie vermeintlich genau wissen, was ihre Kunden brauchen. Dann versucht man, durch weitere Prozesse mehr Klarheit zu schaffen, damit man “schnell etwas entwickeln kann”.
Mehr Prozesse, mehr Projektmanagement, mehr demotivierte Teams, weniger Leistung, schlechtere Produkte. Ein Teufelskreis.
Wie kommt man aus diesem Teufelskreis heraus?
Um aus einer schlechten Situation herauszukommen, bedarf es immer einer großen Kraftanstrengung. Veränderung ist schwierig. Wenn man lediglich einzelne Komponenten umstellt, z. B. einen neuen Prozess einführt oder einen anderen streicht, wird sich nicht viel ändern. Man muss den Reset-Knopf drücken. Europa hat hervorragende Ingenieure und Entwickler. Zusammen mit modernem Produktmanagement ist das eine erfolgversprechende Kombination. In diesem Produktmodell lassen wir Ingenieure das tun, was sie am besten können: Lösungen für Probleme finden. Damit das klappt, muss man viele alte Gewohnheiten über Bord werfen und lernen, mit Unsicherheit umzugehen. Statt deinem Team einen genauen Fahrplan zu diktieren, musst du ihm den nötigen Freiraum geben, um Dinge auszuprobieren und die optimale Lösung zu finden. Die beste Lösung wird in den meisten Fällen deutlich vom ursprünglichen Plan abweichen oder etwas vollkommen anderes sein.
Einzelne Erfolgsgeschichten lassen hoffen. Natürlich gibt es solche Probleme nicht nur in Europa. Denken wir zum Beispiel an Microsoft. Viele Jahre lang war das Unternehmen auf Business getrimmt, die Innovationskraft war begrenzt und das Unternehmen wurde von der Konkurrenz überholt. Heute ist Microsoft stärker denn je und hat mit Satya Nadella einen echten Produktexperten an der Spitze.
Machen es europäische Start-ups besser als die großen Konzerne?
Leider nicht wirklich. Der Umgang mit Produktmanagement ist nämlich keine Frage der Größe, sondern der Kultur. Bei Product Matters arbeite ich täglich mit Unternehmen unterschiedlicher Größe aus der ganzen Welt zusammen. Im Vergleich neigen europäische Unternehmen dazu, schon sehr früh große Prozessstrukturen aufzubauen. Modernes Produktmanagement ist eine Kultur, wie man an Probleme herangeht – und da reicht es nicht aus, ein paar Bücher zu lesen. Wer sich in diese Richtung entwickeln will, muss es selbst erleben. Für Start-ups ist es viel einfacher, schnell etwas auszuprobieren, als für einen Riesen wie Microsoft. Bei großen Unternehmen sehen wir die besten Ergebnisse, wenn wir diese Arbeitsweise in kleinen, aber schlagkräftigen Teams ausprobieren, anstatt zu versuchen, alle vom ersten Tag an mitzunehmen. Sobald nachweisbare Erfolge erzielt werden, wird es viel einfacher, den Rest des Unternehmens zu überzeugen.
Mit Blick auf unsere Early Stage Start-ups. Welche Schritte würdest du für ein besseres Produktmanagement empfehlen?
Da gibt es leider kein Patentrezept. Ich würde sagen, dass Start-ups mit einem hohen Maß an Unsicherheit zu kämpfen haben und genau hier können gute Produktteams ihre Stärken ausspielen. Start-ups haben anfangs oft eine brilliante erste Idee, den Elevator Pitch. Damit lassen sich zwar Finanzmittel beschaffen und Talente rekrutieren, aber ein marktfähiges Produkt ist damit noch lange nicht geboren.
Hier scheitern die meisten Projekte – Start-ups validieren ihre ursprüngliche Idee nicht gründlich und bauen dann etwas, das eigentlich niemand braucht. Für mich ist das frustrierend, weil es leicht vermeidbar ist. Meistens ist es gar nicht so schwer, Annahmen auf den Prüfstand zu stellen. Schwierig ist es, Pläne und Roadmaps zu ändern oder gar Ideen aufzugeben, in die man sich verliebt hat.
Ich empfehle, zunächst (schriftlich) zu formulieren, welches Problem man lösen will und welchen Wert die Idee für den Kunden im Hinblick auf dieses Problem hat. Dann sollte man die Hauptrisiken herausarbeiten, die man sieht, wenn man diesen Wert tatsächlich schaffen will. Es ist erstaunlich, wie wenige Start-ups (und auch Teams in großen Unternehmen) dies tatsächlich aufschreiben und die kritischen Annahmen testen. Die eigentliche Entwicklungs- und Produktarbeit besteht darin, die wirklichen Probleme der Kunden zu identifizieren und eine Lösung zu finden, für die die Menschen auch bereit sind zu zahlen.
Ein sehr gutes Beispiel aus Europa ist Decentriq – ein innovatives Unternehmen im Bereich Confidential Computing. Sie hatten von Anfang an Spitzentechnologie und kluge Köpfe im Team, überwiegend ETH-Absolventen. Die mit Abstand größte Herausforderung war für sie, von einer vagen Problemstellung zu einem sehr spezifischen und klaren Mehrwert für Kunden ein klares Kundenprofil zu kommen. Die Software hat großes Potenzial für verschiedenste Märkte und Branchen. Decentriq hat frühzeitig das kundenwertorientierte Produktmodell umgesetzt und eine konkrete Anwendung mit zahlenden Kunden gefunden.
Wir möchten dich herzlich zu unserer HTGF Academy Live Session am 5. Dezember einladen, bei der du die Möglichkeit hast, Elias Lieberich live zu erleben und deine Fragen zum Thema Produktmanagement in Europa zu stellen. Außerdem haben wir Dr. David Sturzenegger, CPO bei Decentriq zu Gast. Jetzt anmelden!
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